Lernen loszulassen
Reisen ist besonders schön, wenn man nicht weiß, wohin es geht. Aber am allerschönsten ist es, wenn man nicht mehr weiß, woher man kommt.
Laozi (老子 lǎo zǐ) wird dieses Zitat zugeschrieben und in der Tat, da ist viel dran.
Das Leben in China ist auch bloss eine Reise, denn egal, wie lange man auch bleibt, es wird nie für immer sein.
Dafür bekommt man einfach kein Visum und man muss sich früher oder später eingestehen, dass alles, was man sich ursprünglich ausgemalt hat, nur temporär ist.
Aber so wie man ein weisses T-Shirt ab einem gewissen Alter nur noch als Unterhemd ansieht, so ändern sich auch die Lebensbedingungen ständig und es ist gar nicht mehr so schlimm, wenn die eigentliche Reiseroute sich etwas ändert.
Noch vor einem halben Jahr hätte ich mir nicht ausmalen können, dass ich einmal einen Lachanfall bekomme, weil mir jemand quer über das frisch bezogene Bett kackt (die Eltern unter Ihnen werden verstehen, was ich meine).
Hat man ein Kind, überlegt man sich, wo es gross werden soll.
In China muss man sich da schon mal überlegen, ob man überhaupt genug Geld verdient, um dem Nachwuchs eine anständige Ausbildung zu bezahlen. Daneben gibt es dann natürlich noch unzählige andere Faktoren.
Aber in der Regel tendieren alle Ausländer die in China gelebt haben dazu, irgendwann zurück zu gehen.
Obwohl bis dahin noch ein paar Jahre ins Land ziehen werden, macht man sich doch hin und wieder so seine Gedanken.
Und da kommen wir bereits zu unserem Thema: Man merkt nach und nach, dass man den Kontakt zur Heimat und den Leuten dort verloren hat.
Es ist so viel passiert, so viel Zeit vergangen und man hat es nie so richtig geschafft in Kontakt zu bleiben.
Man hat zu den Kollegen aus der alten Heimat, mit denen man ständig zusammen arbeitet, inzwischen ein besseres Verhältnis als zu seinen Freunden mit denen man gross geworden ist.
Dazu kommt, dass man sich in einem anderen Land, unter dem ständigen Einfluss einer anderen Kultur, zwangsläufig gravierend verändert.
In der Regel zum Guten, aber Veränderung lässt trotzdem alte Verbindungen alt erscheinen.
Auch wenn man sich persönlich selbst zum besseren gewandelt hat, indem man jetzt ein Stück weit weltoffener geworden ist und viel aus einer anderen Kultur gelernt hat, heisst das nicht, dass man bei seinen alten Bekannten auch so ankommt.
Sie haben andere Erfahrungen gemacht in der Zeit und auch wenn man versucht all die Jahre Zwischenzeit zu vergessen, so ist da trotzdem immer dieses unausgesprochene Gefühl des deplatziert seins, wenn man wieder unter ihnen ist.
Es gibt nur noch ein paar wenige Freunde, bei denen man bereit ist all die Dinge, die passiert sind nach und nach anzusprechen, um wieder auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt zu kommen.
In der Regel sind dies auch die Leute bei denen es eigentlich egal wäre, ob man sie über all die kleinen Dinge informiert, da man sich ihnen eh näher fühlt. Bei allen anderen bemerkt man bloss noch eine gewaltige Kluft, die sich aufgetan hat über die Zeit.
Es gibt viele Berichte von Menschen, die nach einem langen Aufenthalt im Ausland Probleme haben, sich wieder in der Heimat zurechtzufinden.
Dafür gibt es eine ganze Fülle an Gründen. Die Entfernung zu den alten Bekannten ist hier nur einer von vielen, aber trotzdem einer der gravierendsten.
Im Leben trennt man sich immer wieder von Leuten. Egal, wie eng man früher einmal war, wenn man sich auseinanderlebt, verebbt der Kontakt.
Das interessante an den Beziehungen, die auseinandergehen, wenn man in einem anderen Land lebt, ist der Umstand, dass man ganz plötzlich von einen auf den anderen Tag erkennt, dass der Kontakt eigentlich schon sein Haltbarkeitsdatum überschritten hat. Man hat es vorher bloss noch nicht realisiert.
Man ist immer davon ausgegangen, dass man irgendwann einfach zurückkommt und dort weitermacht, wo man aufgehört hat, da genau dies bei einigen wenigen Beziehungen ja tatsächlich auch funktioniert.
Aber irgendwann erkennt man, dass man diese und jene Beziehung nicht mehr aufnehmen möchte, wenn man zurück kommt, weil es einfach zu viel Aufwand bedeuten würde und man sich auch gar nicht sicher ist, ob es überhaupt funktionieren würde.
Wäre man in Deutschland geblieben, würde man sich immer noch regelmässig treffen, etwas essen oder trinken gehen, aber die Veränderungen sind jetzt zu gross.
Man will über andere Dinge sprechen aber auch die anderen nicht vor den Kopf stossen. Und so lässt man irgendwann einfach los.
Auf der anderen Seite ist es auch schwer, oder besser gesagt unmöglich, in China neue Freunde zu finden. Da man als Ausländer in China nur für eine bestimmte Zeit bleibt, egal wie lange das auch tatsächlich sein mag, sind alle Freundschaften hier nur temporär.
So bald jemand von den anderen Ausländern zurückgeht in die Heimat ist er wie ausradiert. Es gibt keinen Kontakt mehr. Er ist wieder zu Hause und braucht die Kontakte fern in Asien nicht mehr.
Inzwischen unterlasse ich es komplett neue Bekanntschaften zu machen. Wenn ich tatsächlich weggehe (was eh schon sehr selten ist), dann sind die Leute, die ich an diesem Tag kennen lerne für mich auch tatsächlich nur Leute für einen Tag. Danach vergesse ich sie bereits wieder. Freundschaften zu anderen Ausländern haben keinen Wert hier. Ausnahmen sind möglich, aber selten.
Und zu Chinesen eine richtige Beziehung aufzubauen ist so gut wie unmöglich.
Das liegt einfach in der kulturell bedingten Einstellung zu Freundschaften in China. Jeder, der nicht zur Familie gehört, wird nur so lange als Freund erachtet, wie er einem in irgendeiner Weise von Nutzen ist.
In der Regel sind das Beziehungen, die sich finanziell oder auf die Arbeit bezogen auswirken. Es gibt auch Beziehungen, die sich eigentlich nach westlichem Vorbild, anhand der gemeinsamen Aktivitäten manifestieren.
Man geht zusammen weg, hat Spass, lernt vielleicht interessante Leute über den anderen kennen. Aber das war’s dann auch schon.
Freundschaft wird im Reich der Mitte anders verstanden, als bei uns (vielleicht bin ich auch einfach nur viel zu idealistisch). Auch hier gibt es nur einige wenige Ausnahmen.
Wie auch immer. Ich habe einmal in einem der frühen Artikel geschrieben, dass man gut mit sich selber klar kommen muss, wenn man in ein Land wie China zieht, da man sehr viel Zeit alleine verbringen wird.
Das hat sich im Bezug auf Freundschaften auch tatsächlich nicht geändert.
Mit einer Familie kann man sehr gut dieses Phänomen ausgleichen.
Im Bezug auf die alten Beziehungen allerdings bedeutet sie wieder eine Veränderung, die einen ein grosses Stück von den alten, daheimgebliebenen Bekannten trennt.
Es läuft alles auf das eine heraus: Man muss einfach lernen loszulassen.