Mein Papa kann...
„Mein Papa kann“ und „Mein Papa hat“ sind Sätze, die Kinder gerne mal nutzen, um sich selber in einem besseren Licht zu präsentieren, indem sie Anerkennung für etwas verlangen, für das sie selber gar nicht verantwortlich sind.
Interessanterweise sind es aber nicht zwangsläufig immer Kinder, die mit dieser Logik arbeiten, aber sehen sie selbst:
Wer tagein, tagaus mit der U-Bahn in Beijing zur Arbeit fährt, gewöhnt sich zwangsläufig einige seltsame Eigenarten an.
Ist man es aus Europa gewöhnt in einer Schlange mit „normalen“ Schritten, einer nach dem andern nach und nach ans Ziel zu kommen, so geben diese „normalen“ Schritte in China Anlass dazu, dass sich bei jedem Schritt ein bis zwei Leute vor einen drängeln.
Auch ich habe mir inzwischen angewöhnt: Ich mach kleine Schritte. Man trippelt also vor sich hin, den Rucksack, den man im Menschengedränge am besten vor dem Bauch trägt, immer in den Rücken des Vordermanns gedrückt und achtet darauf, keinen Zentimeter Platz freizugeben.
Und noch ein Verhalten, das man so bei uns auch nicht kennt, gewöhnt man sich an: Man drängelt immer so, dass es nicht aggressiv ist und immer noch als „aus Versehen“ interpretiert werden kann, wenn man hier und da ein wenig drückt, schiebt oder blockiert. Ein Verhalten das in Chinas Großstädten überlebenswichtig ist, in Deutschland aber unter keinen Umständen angewandt werden sollte, da man dort schnell den Unmut vieler Leute auf sich ziehen würde.
Ganz anders in China. Hier wird man seltsam von der Seite angeguckt, wenn man sich all zu schnell über kleine Rempeleien aufregt und diese zur Sprache bringt.
Allerdings gibt es für alles eine imaginäre Grenze und die wird auch in China hin und wieder überschritten. Was dann passiert soll Thema des heutigen Artikels sein.
In Deutschland ist es schwer zu sagen welche Gesellschaftsgruppe häufiger aneinander gerät. Es können so wohl Männer als auch Frauen sein, jung oder alt. Alles ist möglich.
In China theoretisch auch, es fällt aber auf, dass gerade Frauen mittleren Alters gerne die Stimme erheben.
Es sind genau die Frauen, die sich auch an der Kasse vordrängeln und ein riesiges Palaver machen, wenn man ihnen sagt, dass sie sich doch bitte in der Reihe anstellen mögen.
Die Generation die zur Zeit der Kulturrevolution Kinder waren, insbesondere die Frauen unter ihnen, lassen in der Öffentlichkeit nur all zu oft Sitten und gutes Benehmen vermissen.
Ich hatte ja bereits im Artikel Umgangsformen und Lächeln einmal erwähnt, dass einige Chinesen der jüngeren Generationen insgeheim darauf hoffen, dass sich gute Umgangsformen in China wieder einfinden, wenn diese Generation irgendwann einmal ausgestorben ist.
Allerdings wird soziales Verhalten ja auch an die nächste Generation weitergegeben, wir dürfen also gespannt sein.
In Beijings U-Bahn kann man hier und da einen verbalen Schlagabtausch mitbekommen. Meist handelt es sich um eine der besagten Frauen, die im Disput mit einem anderen Fahrgast ist.
Der Ablauf solch einer Konversation ist immer gleich: Man fragt sich gegenseitig was man sich denn denkt, oder ob man denn überhaupt fähig ist zu denken.
Dann beschuldigt man sich gegenseitig keine Manieren zu haben und dann kommt man ohne Umwege direkt zu der Frage: Wer ist 老北京人 (lǎo běi jīng rén), also alteingesessener Beijinger Bürger.
Das ist essentiell. Man stellt sich damit auf eine höhere Stufe, indem man impliziert, dass der andere kein Alteingesessener, sondern ein zugezogener Bauer ist, der keine Manieren besitzt.
Es ist jedes Mal ein Fest für die Sinne und mutet auf Ausländer wie mich immer wieder seltsam an, wenn sich in guter Kindergartenmanier diese Dinge an den Kopf geworfen werden. Ich übersetze das ganz flach immer mit: „Mein Papa ist aber schon länger hier als Deiner“ und das fällt natürlich ganz klar in die Kategorie „Mein Papa kann“.