Immer wieder ein Kampf
Neuerdings sind Waschbecken an Flughäfen, Bahnhöfen oder auch in Restaurants mit berührungsfreier Lichtschrankentechnik ausgerüstet.
Das heisst: Man hält seine Hände einfach unter den Wasserhahn und schon läuft das Wasser.
Theoretisch zumindest. In Wirklichkeit sieht das ein wenig anders aus:
Wenn man die Hände nicht direkt vor den Sensor hält, weil die Position zu hoch oder tief ist, passiert rein gar nichts.
Und so kann man überall auf den öffentlichen Toiletten dieser Welt Menschen sehen, die mit gleitenden Bewegungen vor dem Waschbecken ihre Körper verrenken.
Mal mehr, mal weniger elegant führen sie kreisende Bewegungen aus und schneiden mit ihren Handflächen die Luft rund um den Wasserhahn.
Ich muss dann jedes Mal schmunzeln, denn all diese Leute sehen aus, als würden sie gemeinsam Figuren des Tai Chi (太极拳 tài jí quán), des chinesischen Schattenboxens einüben.
Und so kann man auch im Jahr des Feuer-Hahns (hatte ich in den Artikeln Die haben doch ‘nen Knall und Affenzirkus
erklärt) immer wieder Menschen sehen, die gegen den Wasserhahn kämpfen.
Tai Chi und andere, sogenannte Kampfsportarten haben in China eine lange Tradition, aber oft kommt es zu Verwechslungen, wenn Leute über sie reden und so sind sich viele Menschen nicht sicher, wo sie Kung Fu, Karate und Tai Chi einordnen sollen.
Somit möchte ich an dieser Stelle einmal einen kleinen Überblick geben.
Karate und Judo sind japanisch und Taekwondo ist koreanisch. Diese drei fallen schon einmal grundsätzlich raus.
Bleiben noch Tai Chi, Wu Shu und Kung Fu.
In der Regel spricht man von Kung Fu (im Hochchinesischen eigentlich Gong Fu ausgesprochen) (功夫 gōng fu), wenn man von chinesischen Kampfsportarten spricht, obwohl das nicht ganz richtig ist.
Selbst in China hat es sich eingebürgert, man meint aber eigentlich Wu Shu (武术 wǔ shù).
Kung Fu (功夫 gōng fu) bezeichnet eigentlich die innere Haltung gegenüber einer Tätigkeit. Das kann jede x-beliebige Tätigkeit sein. Vom Wischen des Bodens bis hin zu Kampfsportfiguren, die man immer und immer wieder übt.

Wer einmal ein paar Jahre am Fliessband oder einer Maschine gearbeitet hat, wird es kennen:
Man weiss instinktiv, wann man wo zu stehen und Materialien nachzufüllen hat, so dass die Maschine nicht stehen bleibt, sondern die ganze Schicht lang ruhig ratternd vor sich hin läuft.
Man gewöhnt sich an den Takt der Maschine und das Nachfüllen von Verbrauchsmaterialien, so wie das Abräumen des Bandes und die immer wiederkehrenden Kontrollen vereinen sich zu einem Bewegungsablauf, der nach den Jahren immer mehr einem Tanz ähnelt. Genau das ist Kung Fu (功夫 gōng fu).
Das, was man gemeinhin meint, wenn man Kung Fu (功夫 gōng fu) sagt, ist Wu Shu (武术 wǔ shù).
Wu Shu (武术 wǔ shù) steht für die Kampfsportarten Chinas, oder besser gesagt: die Verteidigungssportarten.
Wobei die alten Wu Shu (武术 wǔ shù) Stile weit über die Kampfsportarten hinaus reichen bis hin zur Meditation und Kaligraphie.
Das zweite Zeichen 术 shù steht einfach für Kunst oder Fertigkeit
Aber das erste Zeichen 武 wǔ macht es bereits deutlich: Zwar wird es allgemein mit „Kampf“ übersetzt, untersucht man es aber genauer, wird man feststellen, dass es aus zwei Zeichen zusammengesetzt ist:
止 zhǐ, was so viel bedeutet wie stoppen und 戈 gē, welches für Hellebarde bzw. für Waffe im allgemeinen steht.
Es handelt sich also um die Fertigkeit jemanden mit einer Waffe zu stoppen, unabhängig davon, ob man selber eine Waffe trägt, oder sich nur mit dem Körper verteidigt.
Man würde jetzt aus westlicher Sicht glauben, dass man mit KungFu (功夫 gōng fu), also dem ständigen Wiederholen und der daraus resultierenden Fertigkeit zu einem guten Wu Shu (武术 wǔ shù), also einem guten Kampfstil kommt.
Aber weit gefehlt: Nicht Wu Shu (武术 wǔ shù), sondern KungFu (功夫 gōng fu) ist das übergestellte, grössere Ziel und man kann es, unter anderem mit einem guten Wu Shu (武术 wǔ shù) erreichen.
Wu Shu (武术 wǔ shù) unterteilt sich in zwei Hauptgruppen: Zum einen gibt es den harten Stil, oder auch äusserer Stil genannt (外家拳 wài jiā quán).
Dieser Stil zeichnet sich durch Geschicklichkeit, Abhärtung und Geschwindigkeit aus. Dies ist gemeinhin das, was man im alltäglichen Sprachgebrauch unter Kung Fu versteht. Eine Kampfsportart, die sich aktiv gegen einen Gegner richtet.
Zu den äusseren Stilen gehören unter anderem so klangvolle Namen wie:
- die Faust der acht Extreme (八極拳 bā jí quán)
- das Affen-Kung-Fu (猴拳 hóu quán)
- Hung Kuen (洪拳 hóng quán)
- die südliche Faust (南拳 nán quán)
- die freie Hand (散手 sàn shǒu)
- chinesisch/mongolisches Ringen (摔跤 oder 摔交 shuāi jiāo)
- das Gottesanbeterinnen Kung Fu (螳螂拳 táng láng quán)
- die Ode an den Frühling (詠春 yǒng chūn)
- die Schule der Adlerkralle (鷹爪派 yīng zhuǎ pài)
und das bekannte
- Shaolin Kung Fu (少林功夫 shào lín gōng fu)
Zum anderen gibt es den weichen Stil oder auch innerer Stil genannt (內家拳 nèi jiā quán).
Dieser legt den Schwerpunkt auf die innere Ruhe.
Bewegung, Entspannung, Gleichgewicht und Ganzheit des Körpers stehen hier im Vordergrund.
Wer jetzt allerdings glaubt, dass diese Stile sehr entspannend seinen, dem kann ich versichern, dass man auch hier durch Körperspannung und Bewegung schnell einen Muskelkater bekommt.
Zu den inneren Stilen zählen unter anderem:
- die acht Trigramme (八卦掌 bā guà zhǎng) - (wird Ihnen eventuell aus dem Artikel Alles in Bewegung bekannt vorkommen)
- der Stil der sechs Harmonien und acht Methoden (六合八法拳 liù hé bā fǎ quán)
- das Tongbeiquan (通臂拳 tōng bei quán)
- das Xingyiquan (形意拳 xíng yì quán)
und natürlich das bekannteste von allen:
- das 太极拳 (tài jí quán), bei uns als Tai Chi bekannt.
Darüber hinaus unterscheidet man noch nördliche und südliche Stile, aber das würde an dieser Stelle zu weit führen.
Die meisten dieser Stile kann man so wohl ohne als auch mit Waffen ausführen. Klassische Waffen sind folgende:
- das chinesische Schwert (劍 Jiàn)
- der chinesische Säbel (刀 dāo)
- der Dreistock (三節棍 sān jié)
- der Langstock (棍 gùn)
- der Kurzstock (短棍 duǎn gùn)
- der Fächer (扇 shàn)
- die Guan-Hellebarde (关刀 guān dāo)
- der Speer (枪 qiang)
- die Wurfpfeile (镖 biāo)
- die 9-Teile-Peitsche (九节鞭 jiǔ jié biān)
- der Doppelstock (双节棍 shuāng jié gùn)
Und es gibt noch einige seltene Waffen, aber auch das würde hier zu weit führen.
Man kann all diese unterschiedlichen Gerätschaften als stumpfe Trainingswaffen in speziellen Läden kaufen.
Wer sich für Kampfsport und/oder diese Waffen interessiert, braucht bloss einmal morgens früh in einen Park in einer der chinesischen Grossstädte zu gehen.
Hier finden sich immer ein paar Leute, die gemeinsam ein paar Figuren üben, mit Schwert, Stock oder Fächer herumwirbeln oder einfach für sich ein paar Bewegungen vollziehen, ebenso wie die Leute vor den Waschbecken in den öffentlichen Toiletten.